Bob Dylan wird 70. Greil Marcus schreibt seit vierzig Jahren über ihn. Im Gespräch spricht der Kritiker über den Künstler und seine eigenen intellektuelle Obsession mit der Musik. Er sagt, warum er Dylan nie interviewen wollte. Und warum ihm seine Fans so auf die Nerven gehen.
Man sieht ihm seinen berühmtesten Satz nicht an. «What is this shit?», schrieb er im «Rolling Stone», dem Musikmagazin der damaligen Gegenkultur. Greil Marcus war 25 Jahre alt und rezensierte «Self Portrait» von 1970, die neue Platte von Bob Dylan, ein Doppelalbum mit einem verheissungsvollen Titel. Denn wie Dylan sich selber sah, das wollten zu dieser Zeit alle wissen. Der Sänger hatte sich zurückgezogen, nachdem er mehrere Haken geschlagen hatte. Statt Protestliedern hatte er Rock ’n’ Roll gemacht, dann die entspannten Volkslieder der «Basement Tapes». Es folgte die Folkplatte «John Wesley Harding», dann eine Countryplatte aus Nashville, bar jeder Ironie.
Und jetzt also «diese Scheisse»: lieblose Coverversionen und Liveaufnahmen, unfertige Songs, miserabel arrangiert, desinteressiert vorgetragen, ein einziges «Fuck you» an seine Fans und die Welt. Dylan wollte seine Plattenfirma verlassen und hatte vor allem keine Lust, weiterhin als Prophet oder Sprecher seiner Generation behandelt zu werden. «Mir wurde bewusst, dass ich für Blutsauger arbeitete, und die wollte ich loswerden», sagte er 1984, ausgerechnet dem «Rolling Stone». Aber das verstand damals keiner: dass eine Platte namens «Self Portrait» mit einem von Dylan gemalten Selbstporträt auf der Hülle alle Erwartungen über ihn zerstören wollte. Dylanwollte sich von allem befreien; er tat es, indem er sich öffentlich lächerlich machte.
Auf die Bestürzung damals folgte der Ärger, Greil Marcus fasste ihn im ersten Satz seiner Kritik perfekt zusammen: «What is this shit?» Dabei passt der Satz überhaupt nicht zu ihm. Als man ihn wieder trifft, im leeren, grossen Haus, das er mit seiner Frau Jennifer in seiner Studienstadt Berkley bewohnt, kommt er einem entgegen wie immer: ernst, höflich, konzentriert. Dylan wird am Dienstag 70 Jahre alt, Marcus ist 66-jährig und sieht aus wie immer: jugendlich schlank, mit dunkler Brille und dichtem, grauem Haar. Er war älter, als er jünger war, wie Dylan einmal gesungen hat, und er sieht heute jünger aus als damals.
Er bittet ins Wohnzimmer, wo einem zuerst die Wand voller Schallplatten auffällt, darunter kostbare Singles aus den Sechzigerjahren. «Meine Frau und ich wollten die Platten wegräumen und ins Zimmer verlegen, wo unsere jüngere Tochter bis zu ihrer Hochzeit wohnte. Dann wurde uns klar, dass wir die Gestelle unverrückbar in die Wand geschraubt hatten. Das war vor 38 Jahren, als wir das Haus bezogen. Also bleiben die Platten für immer hier.»
Er verzieht keine Miene, obwohl ihm die Ironie nicht entgehen kann. Denn auch er ist mit der Musik unverrückbar verschraubt. Seit über vierzig Jahren schreibt er über sie. Was sie in ihm auslöst, was sie mit der Kultur Amerikas zu tun hat, der Geschichte und Gegenwart, der Politik. «Amplifikation» nannte der Schweizer Psychiater C. G. Jung dieses Vorgehen, das er bei der Traumdeutung anwandte. Greil Marcus kann mit dem Begriff gut leben, der ja auch ein Rock-’n’-Roll-Wort ist: Verstärkung. In seinen Texten geht der hochgebildete Kalifornier, Nachkomme der deutschen, jüdischen Einwandererfamilie Griel, von einem Song, einer Platte, einem Konzert aus und reichert das Material mit Kultur, Geschichte und Assoziationen an. Marcus hat Dutzende von Büchern, zahllose Kolumnen, Essays und Vorträge gehalten, tritt in Dokumentarfilmen auf, schreibt Plattentexte. Er hat im letzten Jahr eine stark beachtete Anthologie der amerikanischen Literaturgeschichte mitherausgegeben. Er schreibt über Filme, Romane und amerikanische Geschichte. Er lehrt an der University of California in Berkeley und an der New School University in New York, wo er und seine Frau die Hälfte des Jahres über leben.
In seinem neuen Buch kommt Greil Marcus einmal mehr auf Bob Dylan zurück, über den er schon zwei Bücher geschrieben hat, eines über die «Basement Tapes» von 1967 und eines über «Like a Rolling Stone», Dylans berühmtesten Song. «Bob Dylan by Greil Marcus» versammelt fast alle Texte, die jener über diesen veröffentlicht hat. Der zweite Text im Buch ist die Kritik zu «Self Portrait». Der letzte beschreibt Dylans Auftritt an der Universität von Minnesota, wo der Sänger für kurze Zeit als Student eingeschrieben war. Am selben Abend, dem 5. November 2008, wird Barack Obama in Chicago zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Marcus analysiert die von Dylan gesungenen Songs an diesem Abend, von «The Times They Are A-Changin’» bis zu «Blowin’ in the Wind» auf dem Hintergrund dieser amerikanischen Wahl. Sein Text kommentiert die beiden Ereignisse, indem er sie aufeinander bezieht. Niemand kann das so wie er. Und an keinem anderen Musiker hat Greil Marcus diese Verschränkungen so eindringlich dargestellt wie an Bob Dylan.
Der Kritiker traf den Musiker zum ersten Mal im Sommer 1963, das war in einem Zelt in New Jersey. Marcus war damals 18 Jahre alt und Dylan 22. Marcus war wegen Joan Baez gekommen. Die Folksängerin hatte ein paar Lieder vorgetragen und dann einen Freund von ihr angekündigt. «Dann kam dieser Typ mit Gitarre auf die Bühne», schreibt Marcus im Vorwort seines Buches; «er sah schmuddelig aus, geradezu dreckig; und stand mit gebückten Schultern da, als sei ihm alles ein bisschen peinlich.» Der Junge habe ein paar Songs gesungen und dann noch zwei mit Joan Baez, dann sei er abgetreten. Marcus war «wie verzaubert, und ich war verwirrt». Etwas an diesem Auftritt habe ihn herausgefordert, «ihn festzulegen und abzuschreiben, aber das war nicht möglich». Niemand habe gewusst, woher der Junge kam und wohin er gehen wollte, er aber habe alles über ihn wissen wollen. Marcus ging hinter die Bühne, um dem Sänger zu gratulieren, dessen Namen er nicht verstanden hatte. «Du warst grossartig», sagte er zu ihm, während sich Dylan eine Zigarette anzündete. «I was shit», murmelte der zurück, «I was just shit.»
So verliefen die ersten beiden Begegnungen zwischen den beiden, die hinter der Bühne und die auf den Seiten des «Rolling Stone». Warum schreibt Marcus bis heute über Dylan? Warum hat Dylan Marcus als einzigen Kritiker namentlich erwähnt, in seinem autobiografischen Buch «Chronicles Volume One»? Was immer man Marcus fragt, man muss sehr genau zitieren. Denn er hört sehr genau zu.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass Bob Dylan Sie zum Schreiben inspirierte.
Nein, ich sage, dass er einer von mehreren Gründen war, der mich zu einem Autoren machte. Er gab mir einen Anlass zum Schreiben. Zugleich gab er mir auch ein Gefühl für die Sprache, was es heisst zu schreiben, was es dabei für Möglichkeiten gibt. Und was es bedeutet, eine eigene Stimme zu haben, ob man diese Stimme jetzt findet oder erfindet. Es gibt sehr viele Wege, diese Stimme zu finden. Und Bob Dylan hat mich dabei inspiriert — obwohl er nicht der Wichtigste war.
Sondern?
Die Filmkritikerin Pauline Kael. 1965, als ich 20 Jahre alt war, las ich «I Lost It at the Movies», ihr erstes Buch mit Rezensionen, vierhundert Seiten voller Argumente, Attacken und Lobpreisungen. Ich hatte noch nie jemanden gelesen, der beim Schreiben so lebendig wirkte, so gegenwärtig. Ich wollte herausfinden, wie sich das anfühlt, so lebendig zu sein.
Warum schreiben Sie so gerne über Musik?
Viele Menschen werden von der Musik dermassen ergriffen, dass sie dieses Gefühl noch stärker spüren möchten. Also lernen sie ein Instrument zu spielen, wenn sie dazu in der Lage sind. Ich bin das nicht, mir fehlte das musikalische Talent. Aber ich spürte, was Keith Richards, der Stones-Gitarrist, in seiner Autobiografie richtig sagt: dass das Musikmachen und vor allem das Auftreten den fast verzweifelten Versuch darstellt, Gefühle auszudrücken. Und er schreibt: «Ich meine, kannst du es fühlen?» Genau das kann mit Menschen passieren, die Musik hören: Sie können es fühlen. Sie haben sich vielleicht noch nie so gefühlt, sie haben es noch nie so stark gefühlt. Ich wollte das auch, und ich wollte noch mehr: anderen Leuten vermitteln, was mich so berührt hatte.
Pauline Kael und Bob Dylan haben etwas gemeinsam mit Ihrem eigenen Zugang: Er ist radikal subjektiv.
Ich habe mir das so noch nie überlegt. Aus dem einfachen Grund, weil es mir nie in den Sinn gekommen ist, dass ein Autor, sei er nun Schriftsteller oder Redenschreiber, objektiv sein sollte. Sondern es geht darum, was man sagen möchte; versuchen zu verstehen, wie man es sagen kann: am besten, am ehrlichsten, am wirksamsten. So zu schreiben ist nicht wie bei einer wissenschaftlichen Studie, es geht nicht um das Einerseits-Andererseits. Es geht darum zu sagen: Dieser Musiker ist grossartig, dieser da ist schrecklich, und zwar deshalb.
Als Sie Ihre Texte zu Bob Dylan zusammenstellten: Fielen Ihnen neue Gemeinsamkeiten auf?
Ich habe fast alle Texte in die Sammlung aufgenommen, die ich je über Dylan geschrieben habe, mit wenigen Ausnahmen. Dazu gehören ein paar frühe Sachen, die einfach schrecklich waren, nur peinlich. Was mir an den ausgewählten Texten auffiel, hat wenig mit Dylan zu tun. Wenn es eine Kontinuität gibt in diesem Buch, so ist es meine Entwicklung als Autor. Mir fiel vor allem auf, wie sehr sich das Schreiben änderte, nachdem ich «Mystery Train» geschrieben hatte, mein erstes Buch von 1975. Meine Texte vor und nach diesem Buch unterscheiden sich enorm. Mit «Mystery Train» lernte ich zwei Dinge. Erstens nicht alles zu schreiben, sondern auch auszulassen. Und mich zweitens für das freie Assoziieren zu öffnen: mich von einer Idee leiten zu lassen und diese zu formen, ihr das nötige Gewicht zu geben.
Wie hat sich das auf die Inhalte ausgewirkt?
Je länger ich über Bob Dylan schrieb, desto stärker faszinierte mich die traditionelle amerikanische Folkmusik, auf die er sich immer wieder beruft. Das wurde mir richtig bewusst, als ich 1998 «Invisible Republic» schrieb, das Buch über die «Base ment Tapes», die Bob Dylan und The Band aufgenommen hatten. Sie hatten sich 1967 in einer Garage in Upstate New York zurückgezogen und musizierten monatelang in den Tag hinein, spielten alte Songs und schrieben neue. Je mehr ich über diese Musik nachdachte, desto stärker beschäftigte ich mich mit ihren Wurzeln: Blues, Country, Folk, Lieder aus den Appalachen, Bluegrass-Tänze, Songs aus den Zwanzigern und Dreissigern — Volkslieder eben. Bob Dylan hat sich in den letzten zwanzig Jahren mit dieser Musik kreativ wieder befreit, er hat seinen künstlerischen Anspruch zurückgewonnen, er hat wieder gelernt, Geschichten zu erzählen. Statt einer Faszination nachzugehen, hat mein Buch eine Faszination ausgedrückt.
Dylan veröffentlichte Anfang der Neunzigerjahre zwei wenig beachtete Platten mit Standards, die er alleine mit Gitarre einspielte. Aus diesen heraus fand er zu seinem Ausdruck zurück, der seither all seine Aufnahmen prägt, von «Time out of Mind» bis zu «Together Through Life»: Lieder, die wie Montagen funktionieren, dylanisierte Zitate sozusagen. Musste er zurück, um weiterzukommen?
Das mit dem Zurück zu den Wurzeln leuchtet mir nicht ein, weil er nämlich schon vorher damit angefangen hatte. Schon in den Achtzigern spielte er bei seinen Konzerten zwischendurch alleine mit seiner Gitarre und sang alte Balladen, Folkund Bluesnummern. Das Publikum ignorierte ihn, es wollte die Hits hören. Aber er bestand darauf, solche Lieder zu spielen; mir kam es vor, als würde er sich räuspern, um wieder etwas sagen zu können. Dabei lernte er auch wieder zu musizieren. Hören Sie auf das Gitarrenspiel auf seinen «World Gone Wrong» und «Good as I Been to You»: Es klingt einfallsreicher, spielerischer und dramatischer als je zuvor bei ihm.
Und subtiler.
Ja. Gleichzeitig begann er an seinen Konzerten damit, Leadgitarre zu spielen, sehr rhythmisch, was er noch nie zuvor getan hatte. Er wurde also als Musiker wieder lebendig, nicht nur als Sänger. Er lernte die Sprache der alten Lieder neu, nahm ihren Fatalismus auf, ihre Geheimnisse, ihre Leere, ihre Direktheit. Später setzte er diese Sprache in seinen eigenen Liedern ein, von «Time Out of Mind» bis heute. Nun gibt es Leute, die jeden Song und jede Zeile von ihm auf das jeweilige Original rückbeziehen. Na und? Die Originale, auf die sich Dylan bezieht, waren ja ebenfalls Kopien gewesen.
Das gilt schon für Robert Johnson, den Bluessänger aus Mississippi.
Selbstverständlich. Und doch liegen Welten zwischen den Vorlagen und dem, was Johnson daraus gemacht hat und was er dazu singt. Dylan selbst beschreibt in seinem Buch «Chronicles» seine erste Reaktion auf Johnsons Musik. Er ist überwältigt und sagt, er habe noch nie jemanden gehört wie Robert Johnson. Sein Kollege Dave Van Ronk erklärt ihm, woher diese oder jene Melodie gekommen sei; Dylan kann das zwar hören, nur ist das für ihn nicht der Punkt. Aber es gibt halt Leute, die lieber an ein Begräbnis gehen, als bei der Geburt dabei zu sein. Sie erklären etwas für tot, statt dass sie das Neue feiern.
Ihr assoziativer Zugang wird von Kritikerkollegen gelobt, von vielen Dylan-Fans aber abgelehnt. Wie die «New York Post» über Sie einmal anmerkte: «Alles erinnert ihn an alles andere.»
Ich kenne das Zitat, und ich kann die Kritik nachvollziehen. Ich selber würde es etwas anders formulieren. Es ist nicht so, dass alles mich an alles andere erinnert. Sondern, dass wer in einer intellektuellen Besessenheit gefangen ist, wie ich das bin, auf sehr vieles stossen wird, das ihn an das Objekt seiner Besessenheit erinnert. Das kann Hank Williams sein oder Cary Grant, Huckleberry Finn, Franklin Roosevelt oder Bob Dylan. Intellektuelle Besessenheit halte ich für eine Gabe; sie erlaubt einem, um das Objekt seiner Faszination eine Welt aufzubauen, einen Bezug herzustellen. Die Frage bleibt, ob das einem gelingt oder nicht.
Wie gingen Sie auf Bob Dylans Werk zu?
In meinem Buch über die «Basement Tapes» versetze ich mich in die Garage von Big Pink im Jahr 1967, Dylan sitzt am Klavier und singt «Lo And Behold», es ist eine grossartige Aufnahme, die mich tatsächlich an vieles andere erinnert. Über den Ton in Dylans Stimme komme ich auf Lesungen von William Burroughs zu sprechen und vergleiche beide mit der Stimme von Frank Hutchison, einem weissen Bluesmann der Zwanziger aus den Bergen von West Virginia. All diese Stimmen geben einem zu verstehen, dass sie nichts mehr überrascht, dass sie alles schon gesehen haben und genau wissen, wie die Geschichte ausgeht. Ihr Ton ist lakonisch, amüsiert und bitter — ein einziges «Fuck it all».
Kommt es nicht einer Niederlage gleich, über eine Stimme zu schreiben?
Nein, auf gar keinen Fall. Ich halte es bloss für eine sehr grosse Herausforderung. Denn darum geht es ja beim Schreiben: Ob man es fertigbringt, der Herausforderung gerecht zu werden. Manchmal kann man eine Stimme auch beschreiben, indem man eine Bewegung oder einen Satz beschreibt. Wie in dem alten Bluescouplet «the way she walks / the way she talks»: Wie jemand spricht, lässt sich manchmal mit seinem Gang beschreiben.
Dylans Stimme entzweit ja bis heute. Schon von Jimi Hendrix ist überliefert, dass er sich erst dann zu singen getraute, nachdem er Bob Dylan gehört hatte.
Getraute? Wissen wir das wirklich? Ist es nicht so, dass Hendrix von Dylans Stimme inspiriert war, weil er sie grossartig fand? Genauso wie andere Musiker Frank Sinatra oder Ray Charles grossartig finden, die ja beide wirklich grosse Sänger sind. Dylan singt nicht wie sie, aber er kann mit seiner Stimme etwas über den jeweiligen Song ausdrücken, das niemand anderer kann. Dabei geht es nicht nur um den Ausdruck oder um das Gefühl. Sondern es geht um Schönheit. Um die Art, wie er phrasiert, wie er eine Zeile biegt und formt, wie sie in der Luft hängt. Er verfügt als Sänger über eine grosse Subtilität. Ausserdem singt er kaum einen Song zweimal auf die-selbe Weise.
Dylan lädt zum Deuten ein. Warum sind ausgerechnet seine grössten Fans, die Besessenen, die schlimmsten von allen?
Sie sind nicht nur die schlimmsten, sie sind auch die dümmsten. Es hat wohl damit zu tun, dass Dylans Texte die Leute glauben machen, dass jedes seiner Lieder ein Geheimnis berge. Und dass hinter diesem Geheimnis der Sinn des Lebens stünde. Als ob jeder von Dylans Liedern eine Schatztruhe sei, als ob nichts an seinen Songs so sei, wie es scheine.
Daran herumzudenken, kann ja Freude machen, aber dieser Zwang, diese Humorlosigkeit, dieser Fanatismus…
Ich erinnere mich an eine kürzliche Konferenz zu Dylan in New York. Viele interessante Leute traten auf, der Filmemacher D. A. Pennebaker, die Schriftstellerin Dana Spiotta, der Musiker John Wesley Harding und andere. Nachdem mein Kollege Christopher Ricks gesprochen hatte, meldete sich ein Mann in meinem Alter, also ein älterer Mann, stand auf und fragte in dieser typischen, humorlosen Verbissenheit: «Es heisst, ‹ Don’t Think Twice › handle von Suze Rotolo, Dylans Freundin. Kürzlich wurde gesagt, das Stück handle von Joan Baez. Was denken Sie?» Wie soll man auf etwas antworten, das intellektuell dermassen tot ist? Es spielt doch keine Rolle, was einen Song inspiriert hat; es kann der Zweite Weltkrieg oder sonst ein grosses Ereignis sein, der Song muss trotzdem gut werden, sonst kümmert er keinen. Jedenfalls hörte ich diesen Typen und fühlte mich deprimiert; ich dachte, was soll das Ganze überhaupt? Wenn die Leute so auf die Welt sehen, wird die Wirklichkeit eindimensional. Dylans Fans sind die schlimmsten, weil sie etwas unendlich Interessantes nehmen und daraus etwas völlig Lebloses machen.
Dylan selber sagt über solche Leute, sie sollten endlich ein eigenes Leben führen: «Get a life!»
Wer sich auf ihn wirklich einlässt, wie er singt, auftritt und musiziert, wird immer etwas Interessantes darüber zu sagen haben, weil Bob Dylan es auf so interessante Weise tut. Ich erinnere mich an ein Konzert von ihm in den Mittsechzigern, er stand alleine auf der Bühne und kündete einen Song an, den noch keiner von uns gehört hatte. Dylan nannte ihn «Seems Like a Freeze-Out», daraus wurde natürlich «Visions of Johanna», dieser unglaubliche Song. Und obwohl wir das Lied zum ersten Mal hörten, verliessen wir den Saal mit den Wörtern, dem Rhythmus, der Melodie im Kopf. Die Aufführung war nämlich dermassen eindringlich gewesen. Übrigens habe ich noch nie eine schlechte Version dieses Liedes gehört, obwohl sich alle Aufführungen unterscheiden.
Dylans Musik lebt vom Humor, was oft übersehen wird. Der kam ihm zwischendurch abhanden.
Seine Musik lebt vom Humor in der Stimme und nicht nur in den Texten. Ein Song wie «Summer Days» auf «Love and Theft» kommt einem wie ein einziges, grosses Grinsen vor. «Sugar Baby» dann, auf demselben Album, klingt gleichzeitig sehr lustig und sehr bitter. In den Achtzigern hatte er nicht mehr gewusst, was er schreiben sollte, also komponierte er gestanzte Anklagelieder wie auf «Empire Burlesque», über die Guten und Schlechten. Wobei er gut war und alles andere schlecht.
Sie sind der einzige Kritiker, den Dylan in seinen «Chronicles» namentlich nennt. Das erste Mal trafen Sie ihn 1963. Kam es je zu einer weiteren Begegnung?
Ja, 1997 bei einer Preisverleihung. Dylan wurde mit dem Gish-Preis geehrt, benannt nach zwei Schauspielerinnen der Stummfilmzeit. Der Preis ist für einen Mann oder eine Frau gedacht, «die einen überragenden Beitrag zur Schönheit der Welt geleistet haben und zum Verständnis des Lebens und der Freude daran». Dylan war der vierte Preisträger nach dem Architekten Frank Gehry, dem Regisseur Ingmar Bergman und dem Intendanten Robert Wilson. Der Preis ist 300 000 Dollar wert, das ist eine Summe, für die sogar einer wie Bob Dylan vorbeikommen würde. Man fragte mich für die Preisrede an; ich sagte zu, weil ich die Gelegenheit nutzen wollte, ihn zu treffen. Wir sprachen dann ein wenig zusammen.
Worüber?
Er machte mir das grösste Kompliment, das ich mir als Autor nur vorstellen kann. Wir redeten, und er fragte mich, was ich als Nächstes schreiben wolle. Ich hatte grad kein Thema parat, ich hatte eben das Buch über seine «Basement Tapes» veröffentlicht. Dylan sagte: «Warum schreibst du nicht einen zweiten Teil? Du hast ja erst an der Oberfläche gekratzt.» Und das von einem Musiker, der wirklich weiss, was sich unter der Oberfläche verbirgt: Das will schon etwas heissen.
Sie hätten jede Gelegenheit zum Interview mit Dylan gehabt. Warum hat Sie das nie interessiert?
Weil mich letztlich nicht interessiert, was der Künstler denkt oder was er in seinem Leben getan hat. Meine Erfahrung mit Musikern hat mich gelehrt, dass sie dir nichts über eines ihrer Lieder sagen können, was die Macht dieses Liedes ausmacht, was es wirklich darstellt und in Szene setzt. Der Song tut das von sich aus, und die Umstände seiner Entstehung sind vollkommen irrelevant. Nervös wurde ich erst, als ich Dylans «Chronicles» erstmals in den Händen hielt. Ich war gerade an einem Buch über «Like a Rolling Stone», das war im Herbst 2004. Und ich dachte, Mist, er sagt sicher etwas Grossartiges über den Song, etwas so Interessantes und Vielsagendes, dass ich darauf werde reagieren müssen. Ich blätterte Dylans Buch durch und realisierte, dass er seinen berühmtesten Song nicht einmal erwähnt.
Mit den «Chronicles», seiner Version einer Autobiografie, hat Dylan als Buchautor alle überrascht. Zwei Jahre später begann er eine wöchentliche Radiosendung auszustrahlen, der «Theme Time Radio Hour». Sie gruppierte Songs zu Themen wie Teufel und Baseball, Tod und Steuern, Blut, Krieg, Mond, Glück und Tränen. Sie dauerte drei Jahre lang. An seinen Konzerten sagt Dylan kein Wort zu seinem Publikum, am Radio hörte er nicht auf zu reden. Auch wenn er als Schauspieler selten und als Maler nie überzeugt hat, fragt man sich: Was kann der Mann noch alles?
Ich hatte genau dieselbe Reaktion, ich dachte, der Kerl ist einfach mit zu vielem zu gut, das ist nicht fair! Das fand ich schon nach «Chronicles». Ich schreibe ja selber, aber ich werde niemals ein Buch schreiben, das so gut ist wie seines. Dasselbe passierte mir bei seiner Radiosendung. Meine Frau und ich hörten Aufnahmen davon im Auto. Wir fanden ihn so unterhaltend, interessant, witzig und absolut unberechenbar. Natürlich hatte er ein Team, das für ihn recherchierte, Dylan weiss viel über Musik, aber nicht alles. Als DJ aber hatte man das Gefühl, er wisse wirklich alles. Und er wusste immer wunderbare Geschichten zu erzählen. Niemand hat je eine ganze Radiosendung über Musik und Gemüse abgehalten …
… oder über den Frühjahrsputz …
… oder was auch immer. Was mich an seiner Sendung am meisten begeisterte, war: Ich konnte nicht glauben, wie viele der gespielten Songs ich nicht kannte. Ich bin ja nicht völlig unwissend, wenn es um die amerikanische Volksmusik geht. Aber die Hälfte der Lieder, die er spielte, hatte ich noch nie gehört. Und von jedem vierten Musiker hatte ich auch noch nie gehört. Ein Fan hat einmal untersucht, welche Fremdkompositionen Dylan an seinen jeweiligen Konzerten gespielt hat, es sind ja unzählige. Vor einiger Zeit kam eine CD mit unbekannten Aufnahmen von Leroy Carr heraus, dem Bluessänger und Pianisten aus den Dreissigern. Zwei Tage später spielte Dylaneines davon im Konzert; dem Mann entgeht wenig.
Grosse Musiker sind immer auch Fans. Das merkt man immer dann, wenn sie über Musik reden oder schreiben. Wie Dylan in seinen «Chronicles». Oder Keith Richards in seiner Autobiografie.
Einverstanden. Darum mag ich auch Interviews mit Musikern wie Elton John oder Robert Plant: Sie sind selber Fans. Und sie lieben es, von Musikern zu erzählen, die sie beeinflusst haben und immer noch begeistern. Es macht so viel mehr Spass, einem Menschen zuzuhören, der selber Spass hat. Allerdings liebe ich auch die Autobiografie von David Lee Roth dem Sänger der Gruppe Van Halen. Er schreibt nicht so sehr aus der Perspektive eines Fans heraus. Sondern darüber, wie man sich in der Welt zurechtfindet. Roth ist übrigens auch ein wunderbarer Interviewpartner mit einem grossartigen Humor.
Sein schönster Satz handelt von Leuten wie Ihnen: «Kritiker mögen Elvis Costello, weil sie aussehen wie Elvis Costello.»
Er hat recht!
Sie wurden als Kritiker mit einer einzigen Frage sehr berühmt: «Was soll diese Scheisse?», schrieben Sie einst über Dylans «Self Portrait». Haben Sie Ihr Urteil revidiert?
Nein, im Gegenteil. Das englische Musikagazin «Mojo» bat mich letztes Jahr, die Platte nochmals zu hören und darüber zu schreiben, ob ich mich vor vierzig Jahren getäuscht hatte damit. Ich hörte sie mir ein halbes Dutzend Mal an und reagierte genau gleich darauf, wenn nicht noch heftiger. Was ich damals mochte, gefiel mir besser. Was ich schon damals nicht ausstehen konnte, gefiel mir noch schlechter. •