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In Genf benutzen die Advokaten ihre Sprache als Waffe. Rendez-vous mit den grössten Rhetorikern der Republik.
Grosse Fragen stehen an, und das gefällt hier immer. Ausgetragen werden sie im Casino-Theater bei der Universität. Der Abend ist ausverkauft, die Stimmung aufgeräumt. Man trägt Abendkleid, Anzug oder Jeans, man trinkt Rotwein, man sitzt auf Plüsch. Die wägsten unter den Jungen werden zum Disput erwartet, eine neue Generation von Anwälten und Anwältinnen, angereist aus Paris und Brüssel, von Genfern arrondiert. Denn wo grosse Fragen gestellt werden, müssen beredte Denker her, und rühren die gestellten Fragen nicht an die allerletzten Dinge? Nämlich erstens: Ist die Eitelkeit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Zweitens: Was ist besser, ein empörter Banker oder ein enthusiastischer Anwalt? Und: Hat der Weltuntergang eine Zukunft?
Den ganzen Abend lang tritt das Dutzend gegeneinander an, vier Stunden lang wird geredet vor vollem Haus, neun Männer und drei Frauen, nach Land gruppiert, was dem Anlass etwas von einem frankophonen Wettbewerb verleiht. Schweizer, Franzosen und Belgier, das garantiert Konflikte und Beschimpfungen, das weckt Arroganz und Trotz, das löst nationalistische Reflexe aus. Zuerst trägt einer sein präpariertes Plädoyer zu einer der drei Fragen vor. Dann müssen sechs gegen das Plädoyer animprovisieren, zehn Minuten lang. Zuletzt treten Professionelle auf, Rhetoriker der obersten Klasse aus Paris und Genf. Sie schulmeistern alle Jungen und machen zugleich vor, wie man die Kunst der Rhetorik dazu verwendet, um das Gegenüber intellektuell zu exekutieren.
«La Conférence Berryer» heisst dieser juristisch-rhetorische Wettstreit, der in Paris monatlich und in Genf oder Lausanne jährlich abgehalten wird. Er ist Pierre-Antoine Berryer gewidmet, einem französischen Advokaten, Parlamentarier und Rhetoriklehrer, der zu den Mächtigen hielt und zugleich die Redefreiheit forderte. Er war erst Bonapartist und dann Royalist, verteidigte Generäle und Journalisten, Chateaubriand und Napoleon III., den er zuvor attackiert hatte. Zwischendurch musste er ins Genfer Exil ausweichen. Als Konservativer bekämpfte Berryer alle liberal-modernistischen Tendenzen, die er als Anwalt verteidigte, wenn ihre Vertreter nicht mehr reden durften. Pierre-Antoine Berryer starb 1868, aber Genf hält Ersatz bereit. Der Anwalt Marc Bonnant wird am Schluss des Abends die Kritik an den Kritisierenden formulieren. Vor seinem Auftritt empfängt er in seinem Büro im bürgerlichen Genfer Champel-Quartier, ein 67jähriger Lebemann mit schlohweissem Haar, rosaroter Krawatte und vollendet höflicher Herablassung. Ölbilder hängen an den Wänden, schwere Enzyklopädien liegen bereit, sein Holzpult könnte in Versailles stehen, die Computer bleiben im Sekretariat. Ein Bonnant schreibt nicht, er diktiert. Beim Reden raucht er Marlboros mit Zigarettenhalter, blickt amüsiert durch seine Hornbrille und sagt: «Dieser Berryer, also das war schon ein Supertyp.» Das sagt er natürlich nicht, wir wollten nur wissen, ob Sie aufgepasst haben. Ob Sie angemessen wach und rezeptiv sind und über den nötigen Esprit verfügen, um estimieren zu können, wie Monsieur l’avocat seine Worte wählt und wägt und karessierend formuliert. «Même son subjonctif est plus que parfait», wird einer seiner Bewunderer sagen, später im Casino- Theater. Und da für Marc Bonnant, wie für so viele hier in Genf, die Zivilisation hinter Fribourg am Limes der Sarine aufhört und alles weiter östlich als grunzende Barbarei wahrgenommen wird, zumindest sprachlich, scheint es uns opportun, den Maître, wie die Anwälte hier heissen, vorübergehend im Original zu zitieren ohne Untertitel: «Pierre-Antoine Berryer est une immense figure, l’un des grands orateurs français de la fin du XVIIIe et du début du XIXe. Et il fut non seulement un orateur, donc un rhéteur, mais aussi un rhétoricien, qui a écrit sur l’art oratoire et sur l’éloquence. Il est une parfaite incarnation de l’avocat – selon moi, selon nous, selon ceux qui le connaissent – parce qu’il mettait sa parole et son intelligence au service de causes très diverses. Et cela indépendamment de ses convictions intimes.»
Ein Supertyp also, dieser Berryer, wir sagten es schon. Von ihm und von Cicero hat Maître Bonnant gelernt: Die Rhetorik muss gefallen, erbauen und bewegen. Sie ist eine Kunst, also muss sie erlernt werden. Weshalb der Anwalt es begrüsst, dass die Kunst an der juristischen Fakultät und der Anwaltsschule von Genf unterrichtet wird. Denn die Rhetorik gehört hier, anders als in Zürich, zum expliziten Handwerk des Anwaltes. Seine Waffe ist die Sprache und seine Überzeugung die Bereitschaft, die Wahrheit seines Klienten zu verteidigen oder, wie Bonnant es formuliert: seine Intelligenz in den Dienst seines Mandanten zu stellen. Der Anwaltsberuf habe etwas Söldnerisches, sagt er, das lasse an der Moral zweifeln. Dabei habe gerade diese Haltung auch ihre moralische Seite: Der Anwalt wisse nämlich, dass es keine Wahrheit gebe, sondern nur Wahrheiten, über die sich unendlich lang debattieren liesse.
Wie viel der Mandant dafür bezahlen muss, sagt Bonnant nicht, der zu den bekanntesten und teuersten Anwälten der Stadt gehört. Er hat die Familie des schwerreichen französischen Banquiers Edouard Stern vertreten, der im Latexanzug gefunden worden war, erschossen von seiner Gespielin. Er zählt Alain Delon und Helmut Newton zu seinen früheren Kunden, liess sich von heiklen Ländern wie Kasachstan anheuern, wurde im Zusammenhang mit umstrittenen afrikanischen Ölfirmen genannt, verteidigte Banquiers, Financiers, Oligarchen oder hohe Politiker.
Was er hingegen gerne sagt, der hochgebildete Reaktionär: Wie wenig er von Gleichheit oder Brüderlichkeit hält. Sein Vorwurf an die Moderne: Alles sei normiert, harmonisiert, konsensualisiert. «Wir sind so mitfühlende Demokraten geworden, wir glauben an die Würde des Menschen und an den Feminismus. Wir lieben die Armen, auch wenn wir sie meiden. Alle stehen ein bisschen links, sogar die Rechte. Niemand geht mehr in die Kirche, alle schauen fern, alle treiben Sport. Wir sind so zahm geworden, wir langweilen uns zu Tode. Leidenschaften gibt es nur noch in den Bibliotheken, nur liest dort keiner mehr.»
Dieselbe Zähmung aller Konflikte und Unterschiede ortet Bonnant auch in seiner Stadt, «une cité très apaisée», wie er sie nennt. Man kann nicht umhin, mit ihm zusammen den Klang seiner Formulierung zu geniessen. Aber stimmt sie auch? Eher doch das Gegenteil. Genf sei in der Krise, hört man hier nämlich dauernd, «Genève, un état de crise», sagen die einen, «Genève en état de crise» die anderen. Ist in Genf nun der Staat in der Krise, oder ist Genf im Zustand der Krise? Es spielt keine Rolle, weil in Genf dauernd Krise herrscht: Immobilienkrise, Grenzgängerkrise, Regierungskrise, Vertrauenskrise, Verkehrskrise, Bankenkrise, Uno-Krise, Umweltkrise. Ein Regierungsrat muss nach einer Rauferei mit einem Barmann zurücktreten, der Parlamentarier, der ihn beerben will, fängt im Kantonsrat fast eine Schlägerei an. Genf und Krise, das ist ein Pleonasmus. Und wo immer Krise herrscht, richtet man sich in ihr ein, der Ausnahmezustand entspannt sich zur Normalität, so gesehen hat der Alte recht, wenn auch nicht mit seiner Begründung.
Zwar ist man von den Wonnen der Bonnantschen Rhetorik und den Verlockungen der «Conférence Berryer» schon sehr betört. Dennoch fühlt man sich verpflichtet, an dieser Stelle von einem Prozess zu berichten, der kurz vor dem Auftritt der jungen Anwälte im Casino-Theater seine vorerst letzte Phase durchlaufen hat. Denn das ist ein Prozess, der nicht so sehr wegen der Brillanz der Argumente und der Eloquenz der Kontrahenten von sich reden macht. Sondern wegen der ungünstigen Kombination von Dauer und Effizienz. Sehr lang die erste, sehr gering die zweite.
Der Anlass liegt über zwölf Jahre zurück, nämlich der faktische Kollaps der Genfer Kantonalbank. Ihre Sanierung kostete den Steuerzahler 2,4 Milliarden, das macht 11 000 Franken pro Bürger. Daraus ergab sich ein Prozess mit allem, was ein guter Genfer Prozess braucht: einen Immobilienhändler in finanziellen Schwierigkeiten, der dazu noch Präsident des FC Servette war, und fast immer, wenn Servette mitspielt, ist das nächste Debakel nicht weit. Ferner zwei Kaderleute der Genfer Kantonalbank, die dem Immobilienhändler selbst dann noch mit hohen Krediten aushalfen, als dieser nur noch Schulden produzierte. Was dazu führte, dass der Händler der Bank am Ende 20 Millionen Franken schuldig blieb. Und schliesslich spielt auch ein ehrgeiziger Generalstaatsanwalt eine bestimmende Anfangsrolle, ein Sozialdemokrat namens Bernard Bertossa, der den Immobilienhändler und die Bankenkader spektakulär und medienwirksam verhaften liess. Und zwar kurz bevor das Stimmvolk seinen Nachfolger in einer Kampfwahl bestimmen sollte.
Das war vor zehn Jahren. Die Verhaftung war der Auftakt zu einem byzantinisch verästelten, in über 1400 Aktenordnern dokumentierten Prozess. Die Anklage brachte sich mit Verfahrensmängeln in Schwierigkeiten, die Verteidigung wusste die Verhandlungen immer wieder hinauszuzögern. Was erklärt, dass sich an einem grauen Montag im Januar 2012 vor dem Genfer Polizeigericht zwar viele zusammenfinden, aber keiner mehr an die Sache zu glauben scheint. Also der Richter samt Entourage, der Generalstaatsanwalt, die Angeklagten mitsamt ihren Staranwälten und ein halbes Dutzend zutiefst unbeeindruckte Presseleute. Sie alle sehen voraus, was zwei Wochen später verkündet wird: Freisprüche für alle und das vorläufige Ende eines Prozesses, der immer mehr zur Farce geriet.
Einer der Verteidiger, der rechtsbürgerliche Genfer Nationalrat Christian Lüscher, gibt in seinem ersten, sich kunstvoll steigernden Plädoyer den Ton vor. Lüscher hatte vor zweieinhalb Jahren mit seiner Bundesratskandidatur auch
die Deutschschweiz beeindruckt, rhetorisch und sonst. Nicht die Angeklagten stünden vor Gericht, sagt er im kahlen Sitzungsraum G des Genfer Tribunals, sondern die Justiz selber. Der ganze Prozess sei eine Absurdität, sagt er und steigert seine Empörung in wohldosierten Schüben, und es könne nur noch darum gehen, einen Leichnam zu Grabe zu tragen. Damit meint er das ganze lange Verfahren. «Beweist nicht die Justiz einmal mehr ihre Unfähigkeit?» ruft Maître Lüscher in den Saal.
Daniel Zappelli, als Generalstaatsanwalt Lüschers Kontrahent, sitzt vorne rechts vom Richter, leicht erhöht und ziemlich unkonzentriert. Er drückt auf seinem Handy herum, redet wenig und sagt nichts. Dass der oberste Ankläger zwar anwesend
ist, aber abwesend wirkt, hat seinen Grund: Zappelli ist seit Ende März ein gewesener Staatsanwalt. Vor zehn Jahren hatten bürgerliche Politiker und Anwälte den Freisinnigen noch stark unterstützt, der sich mit der Losung «Genève d’abord» für das hohe Amt empfohlen hatte. Was nach Chauvinismus klingt, war als Programm gemeint. Denn anders als sein Vorgänger Bertossa wollte Zappelli lieber den lokalen Kleinkriminellen nachrennen, als sich mit Geldwäschern, Drogenkartellen, östlichen Oligarchen oder undurchsichtigen Erdölfirmen herumzuschlagen. Das gefiel vielen in Genf.
Seit seiner Wahl hat sich der Generalstaatsanwalt als Zauderer erwiesen, der weder die Grossen noch die Kleinen angemessen belangte. Sondern in seiner Arbeit als Chefankläger und auch
in der Umsetzung der neuen Strafprozessordnung dermassen umständlich vorging, dass im November seine vier Stellvertreter aus Protest zurücktraten; sie könnten, sagten sie, diese Art von Amtsführung nicht mehr mitverantworten. Die Linke sah sich bestätigt, Kritik kam aber auch von rechts. Dass selbst Kollegen, die ihn damals aufgebaut hatten, von ihm abrückten, ist nur eine von vielen Ironien einer Stadt, in der Einfluss, Macht, weltweite Interessen und sehr, sehr viel Geld auf engstem Raum geteilt, verteilt und geschützt werden.
Genf ist die internationalste Stadt der Schweiz und die dritt- teuerste Stadt der Welt. Hier entstand der Calvinismus, hier arbeitet die Uno, hier wirken unzählige Organisationen und Grossfirmen. Kritiker sehen die Stadt als Hort der Geldwäscherei, jedenfalls als weitgehend unkontrollierbaren Finanzplatz. Genf ist zentral für die Schweiz und wichtig für die Welt. Zwar redet man gerne von sich als einer kleinen Republik. Aber das ist nur geographisch gemeint. Denn das lokale Selbstbewusstsein ist gross. Das hat mit Wirtschaft, Politik und Religion zu tun, mit Geschichte. Als calvinistische Gründerstadt habe es Genf immer mit dem Geist, dem Geld und dem Wort gehalten, sagt der Anwalt und Soziologe Jean Ziegler, Experte bei der Uno. Ziegler, der notorische Linke, ist übrigens mit dem notorischen Rechten Marc Bonnant befreundet und tritt an der «Conférence Berryer» als Ehrengast auf.
Noch wichtiger als das Wort ist in Genf die Sprache, also das Französische. In Genf wurde früher französischer gesprochen als in Paris. Die Stadt war kurze Zeit eine französische Departementshauptstadt, ist von Frankreich praktisch umschlossen und kulturell auf Paris fixiert. Der französische Einfluss auf Genf sei bis heute unglaublich gross, sagt Ziegler, zugleich werde Genf als einzige Schweizer Stadt von Frankreich wahrgenommen.
Genf bot sich schon seit dem 17. Jahrhundert als Fluchtort vermögender Franzosen an, allen voran der Hugenotten. Dank der «unglaublichen Akkumulation von Wissen, Geld, Zynismus und protestantischer Verschwiegenheit», wie Ziegler es formuliert, habe sich die Stadt als Kassenschrank dubioser Vermögen und damit der Privatbanken etabliert. Zudem sei Genf das Casino der Hedge-Funds, eine Zapfstelle für Scheichs und ein weltweiter Umschlagplatz für Erdöl. «Und das zieht natürlich die Anwälte an.»
Genf, die Advokatenstadt. Über 1700 Anwälte arbeiten hier, auch wenn die Konkurrenz härter geworden ist. Es gibt auch Anwältinnen, aber es bleibt eine männlich dominierte Welt. Früher konnte ein Wirtschaftsanwalt nur schon mit Aufträgen aus Panama eine Million pro Jahr umsetzen, heute bekommt die Branche die Fusionen der Firmen und Banken zu spüren, das wankende Bankgeheimnis, die Globalisierung.
Dennoch haben Anwälte hier immer noch zu tun. Sie dominieren auch die Politik und damit das Kantonsparlament, dessen Debatten zum Unterhaltsamsten gehören, was man in der Schweizer Politik erleben kann. Dass hier so viel geredet und gestritten wird, hat mit dem lokalen Temperament zu tun,
der «grande gueule genevoise», der grossen Genfer Klappe. Die Genfer halten den Stabreim für ein Kompliment, alle um sie herum halten ihn für eine Beschimpfung. «Die Genfer gefallen sich in der rebellischen Rolle», findet Pierre Ruetschi, Chefredaktor der «Tribune de Genève», «sie sind immer gegen etwas.»
Dafür beachte man hier die Unabhängigkeit des Anwaltes
mehr als in der Deutschschweiz, sagt Jean-Pierre Garbade,
ein engagiert linker Strafverteidiger, der lange in beiden Landesteilen gearbeitet hat. In Zürich oder Bern sei er als Anwalt immer wieder fichiert, bei seinem Kontakt mit Gefangenen gefilzt, mit Trennscheiben behindert oder überwacht worden. «In Genf war man schon damals in solchen Fragen liberaler im ursprünglichen Wortsinn: Unabhängig davon, welche Politik Sie vertreten, bringt man Ihrer Arbeit Respekt und Vertrauen entgegen.»
Das hindert hier niemanden daran, sich bei jeder Gelegenheit laut zu beklagen. Dass die Stadt den Eindruck eines permanenten Krisenzustands vermittelt, hat viel mit ihrer Streitlust zu tun. Anderswo werden Konflikte ausgemurmelt, hier eskalieren sie zum öffentlichen Streit, ein weiterer Grund, warum die grosse Rhetorik in der kleinen Republik so sehr geschätzt wird. Über das Resultat ist damit noch nichts gesagt. «Dass hier alles so schnell eskaliert», sagt Fati Mansour, Gerichtsreporterin von «Le Temps», «macht die Justiz zwar unterhaltender, aber noch nicht besser. Auch ein Ventilator macht Lärm, ohne etwas zu bewegen ausser Luft.» Der endlose, erfolglose Prozess um die Genfer Kantonalbank liefere dafür ein ebenso eindrückliches wie deprimierendes Beispiel.
Einer der streitbarsten Anwälte der Republik heisst Charles Poncet. Auch seine vielen Gegner anerkennen, dass die fachlichen Qualitäten des promovierten Juristen ausser Frage stehen. Poncet kommt aus einer Anwaltsfamilie; als Sohn einer Italienerin wuchs er in Genf zweisprachig auf und hat Englisch und Deutsch bei Berufseinsätzen in Zürich, London und Washington perfektioniert. Wie wenige Genfer kennt und schätzt er die Deutschschweiz, und obwohl er sein Land als «von Neid und Mittelmass zerfressen» bezeichnet, möchte er keinem anderen angehören. Poncet ist streitbar, auch weil er sich kämpferisch gibt. Er sei ein «antiklerikaler Katholik», sagt er, und ein «Gegner von Denkverboten». Und er lasse sich von allen anstellen, die ihn angemessen dafür bezahlten. Dabei hat er schon Genfer Ärzte ohne Honorar und mit Erfolg verteidigt, die sich mit der Tabakindustrie angelegt hatten.
Charles Poncet wurde einiges bekannter und sehr viel umstrittener, als er Hannibal Ghadhafi gegen den Kanton Genf erfolgreich verteidigte. Das Mandat habe ihm keinerlei Mühe bereitet, sagt er, auch wenn er sich damit zum bestgehassten
Mann der Stadt gemacht habe. «Schon das reizte mich an diesem Fall, ausserdem fand ich ihn juristisch sehr interessant.» Poncet schliesst überhaupt nicht aus, dass der libysche Diktatorensohn seine Angestellten misshandelt habe. Ihn störte aber das Vorgehen der Genfer Polizei bei Ghadhafis Verhaftung: «Sehr medial, sehr ungeschickt, sehr kontraproduktiv.»
Der 65jährige Sanguiniker empfängt zu Austern und Weisswein, der Kellner weiss schon, wo er sitzt. Im Gespräch zeigt er sich geistreich und charmant, ein brillanter Causeur, der auswendig aus Schillers «Willhelm Tell» rezitiert. Die Begegnung verläuft entschieden freundlicher als andere, von denen einem erzählt wird. Es gibt Leute in Genf, die Poncet für einen gefährlichen Mann halten. Sein Einfluss sei zurückgegangen, hört man verschiedentlich, reiche aber immer noch weit. Er wirke über seine Partei, die Liberalen, immer noch auf die kantonale Politik, dazu noch über die weitverzweigten Kontakte seiner Kanzlei und über alle möglichen Medien. Charles Poncet, das sagen viele hier, sei brutal im Austeilen und hochempfindlich im Einstecken. Je heftiger er allerdings um sich schlage, desto mehr schwäche er seine Position. Er möge ihn zwar gut, sagt Poncets linker Kollege Jean-Pierre Garbade. «Was mich aber stört an ihm: dass er nie jemanden kritisieren kann, ohne ihn dabei fertigzumachen.»
Klar ist, dass Charles Poncet lustvoll den Bösen spielt. Am liebsten wäre er Schauspieler geworden, und er hat auch fünf Jahre am «Conservatoire d’art dramatique» Unterricht genommen, weil ihm die bösen Rollen so gut gefielen: «les pourris, les salauds, les tordus», wie er sie nennt, die Verdorbenen, die Sauhunde, die Verdrehten. Unbestritten ist, dass sich der Anwalt als Meister des medienpolitischen Multitaskings profiliert hat. Der ehemalige Kantons- und Nationalrat der Liberalen Partei ist exzellent vernetzt. Er schreibt Kolumnen für das Magazin «L’Hebdo», ist häufiger Gast von Radio und Fernsehen, regelmässiger Interviewpartner in Westschweizer Zeitungen, die er als Anwalt schon verteidigt und auch angegriffen hat. Schon das macht es den Medien schwer, ihn zu kritisieren.
Was denn Genf, die Advokatenstadt, für ihn als Anwalt von anderen Städten unterscheide, in der Schweiz und anderswo? «Bei uns herrscht oft ein Chaos», sagt er, die Kommunikation funktioniere nicht, die Verhandlungen begännen zu spät, die Behörden reagierten zu langsam oder seien kaum zu erreichen. «Mais un peu de bordel, vous savez, ce n’est pas mal dans notre profession.»
Zurück in das Casino-Plüschtheater, wo die jungen Advokaten aus Paris, Brüssel und Genf zum rhetorischen Duell antreten. Sie sehen bleich aus, schauen schlaflos drein. Ihre Auftritte
an diesem kalten Samstagabend im Februar machen klar, warum. Aus dem Stand heraus ein soeben gehörtes Plädoyer anzugreifen, auseinanderzunehmen und zu entkräften, das will gelernt, geübt, korrigiert und ausprobiert sein. Dazu fehlt allen die Erfahrung, einigen die Nervenstärke und anderen das Talent. Dazu kommt, dass sie vor einem vollen Saal reden, in dem viele ihrer Kolleginnen und Kollegen sitzen. Dazu kommt auch, dass die Jungen vorne im Wissen darum reden, dass ihre Attacken nachher selber und mitleidlos dekonstruiert werden. Und schliesslich reden sie im Wissen darum, dass im Publikum auch Abgesandte der grossen Anwaltskanzleien sitzen, die nach den Besten suchen unter den Neuen, wie die Agenten auf den Tribünen der Fussballplätze, nur dass sie in die Köpfe schauen statt auf den Ball.
Zuletzt tritt Marc Bonnant, der Anwalt aus dem virtuellen Versailles, der grosse Rhetoriker der kleinen Republik, vor das Publikum und hinter das Mikrophon. Sein Auftritt gerät charmant, das Urteil bleibt unbestechlich. Bonnant redet ohne Notizen, erinnert sich aber an jeden Fehler jedes Duellanten. Ihre Umständlichkeiten, ihre Unklarheiten. Die Beschimpfungen des Gegners, die von mangelhaften Argumenten zeugen. Ihre Häufung von Klischees, was er besonders bedauert, denn: «Le cliché n’est rien d’autre que le repos de l’esprit.» Die zu laut oder zu wenig sicher klingende Stimme. Die schlecht dosierte Ironie. Die übergrosse Verliebtheit in die eigenen Pointen. Und vor allem den fehlenden Mut zum Bösen. Im Plädoyer, hat Maître Bonnant vor dem Auftritt der jungen Rhetoriker erklärt, zeige sich die Kunst der Grausamkeit. Ihre Anwendung, erklärt er nun den jungen Rhetorikern, sei über alle Massen anspruchsvoll. «Es genügt nicht, boshaft zu sein, einseitig oder destruktiv. Es geht darum, grausam zu sein aus Überzeugung; Grausamkeit ist die noble Antwort auf die Gleichmacherei.»
So kehrt man denn zurück aus der Stadt des Wortes und
der Sätze, von den Debatten inspiriert, von den Argumenten umfächelt, von den rhetorischen Feuerwerken und Spiegelfechtereien geblendet, von den vielen Reden und Gegenreden stark beeindruckt und leicht ermattet. Zu den grossen Fragen, deren Beantwortung man beiwohnen durfte, hat sich eine weitere gesellt: Was das Recht denn mit der Moral zu tun habe.
Das ist, hat man hier gelernt, eine rhetorische Frage.
Marc Bonnant, Wirtschaftsanwalt, Genf. Jean Ziegler, Anwalt und Soziologe, Genf. Charles Poncet, Wirtschaftsanwalt, Genf.
Am Freitag, zu seinem 69. Geburtstag, hatte er sein kühnes neues Album veröffentlicht, zwei Tage später starb David Bowie an Krebs. Nachruf auf einen Erfinder seiner selbst.
Tages-Anzeiger vom 11. Januar 2016
Er starb, wie er gelebt hatte, als Rätsel. David Bowie wird von Millionen auf der ganzen Welt verehrt, Musikerkollegen loben mit Überschwang seinen Einfluss als Sänger, Musiker, Lyriker, Konzeptualist und Darsteller auf der Bühne. Er hatte als einer der ersten die Künstlichkeit der Popkultur erkannt und sich ihr in wechselnden Rollen immer wieder anders dargeboten.
Sein neues, am Freitag erschienenes Album «Blackstar» wird von der Kritik in den Himmel gelobt, aus dem er Anfang der Siebziger heruntergestiegen war in der grellbunten Rolle des Ziggy Stardust, dieser androgynen, zeitlos schönen Gestalt mit rotem Haar und Alabasterhaut, ein Wesen wie von einem anderen Stern, zerbrechlich, begehrenswert, unnahbar. David Bowie, vor 69 Jahren als David Robert Jones im armen Londoner Stadtteil Brixton geboren, hatte von Anfang an eine Menge vor. Mit sich, mit der Welt.
Der Sänger hatte sich 2004, nach einem Herzinfarkt auf offener Bühne, weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Mit seiner Familie lebte er diskret im Süden Manhattans. Er litt seit anderthalb Jahren an Krebs, hielt seine Krankheit aber geheim. Er arbeite seit 2001 hier, sagte ein Türsteher vor Bowies Haus an der Lafayette Street, «und keiner von uns wusste, dass er krank war».
Wir sollten es von ihm selber erfahren: Das neue Album hört sich an wie ein Nachruf zu Lebzeiten. Das Stück «Lazarus», das Bowie für ein Musical komponierte, erwähnt die Qualen von Krankheit und Betäubung. Zu hingehuschten Melodielinien, zum fliehenden Puls der Rhythmusgruppe trägt Bowie mit der für ihn so typischen Mischung aus Wehmut und Klarheit Zeilen des Verendens vor:
«Look up here, man, I’m in danger I’ve got nothing left to lose I’m so high, it makes my brain whirl Dropped my cell phone down below»
Schau zu mir auf, Mann, ich bin in Gefahr. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich bin so high, dass sich mir der Kopf dreht. Gerade liess ich mein Handy fallen. «His way or no way / You know I’ll be free» – so wie Gott will oder gar nicht, singt er zuletzt, «weisst du, dass ich frei sein werde.» Im Video windet er sich auf dem Bett mit verbundenen Augen.
Bowie war kaum zu fassen. Zeitlebens ging etwas Befremdendes von ihm aus. Es bestimmte auch sein Werk als schizoides Unbehagen, das jedem Gefühl misstraute, das der Sänger mit seiner verschwenderisch schönen Stimme beschwor. Auf seinen besten Platten klang er verstörend und zugleich ergreifend, ein Frank Sinatra der Albträume. Den Höhepunkt seiner Kreativität erreichte er in den Siebzigern mit so vielfältigen, von brillanten Songs durchsetzten Alben wie «Ziggy Stardust», «Diamond Dogs», «Young Americans», «Station to Station» bis hin zu seiner Berliner Trilogie und «Scary Monsters (And Super Creeps)», seinem letzten Meisterwerk für lange Jahre. Erst mit «1 Outside» von 1995 gelang ihm wieder ein überragendes Album, das ihn zu einer Reihe weiterer, meist überdurchschnittlicher Veröffentlichungen inspirierte. Auf der Bühne überzeugte er fast immer, er war ein fantastischer Performer, charmant in den Ansagen, mitreissend als Sänger.
Mit jeder neuen Platte nahm der Mann, der wie ein Messer hiess, eine neue Rolle ein; er setzte Musiker ein, probierte Stile an, verfiel dem Ruhm und dann dem Kokain, liess sich vom Faschismus faszinieren, kam sich abhanden, kam zu Bewusstsein, gab zu reden, blieb unfassbar, blieb einflussreich, prägte Stile und Bewegungen. «There’s old wave, there’s new wave, and there’s David Bowie», dichtete seine Plattenfirma RCA 1977, im Sommer des Punk, und präsentierte dazu «Heroes», ein unerhörtes Album, das die Dissonanzen der Avantgarde mit dem Massengeschmack kollidieren liess.
«Fame», hatte Bowie in den Mittsiebzigern auf dem gleichnamigen, mit John Lennon geschriebenen Stück gesungen – «what you get is no tomorrow.» Auch dieser Satz war seiner Zeit voraus: seiner eigenen. Denn in den Achtzigern machte sich der Sänger zum Gespött. Seine Musik klang so falsch wie sein Lachen, wie seine irreführenden, immer wieder neue Widersprüche schaffenden Bekenntnisse, wie seine eitlen Bilder, wie seine zumeist schauderhaften Filme. Dass ihm letztlich nur sein erster gelang, «The Man Who Fell to Earth» von Nicolas Roeg (1976), belegt seine Unfähigkeit, einen anderen zu spielen. Er habe wenig Geduld und langweile sich bald, bekannte er, der im Studio schnell und konzentriert arbeitete: «Ich habe die Aufmerksamkeitsspanne einer Heuschrecke.»
Solche jähen Analogien sahen Beobachter als Hinweis für eine fragmentierte Identität. Reflexartig verwiesen sie auf Bowies geliebten Halbbruder Terry, der früh an Schizophrenie erkrankte, an einem Januarmorgen 1985 die Klinik verliess und sich unter den Zug legte. Bowies rätselhafte, mit der Cut-up-Technik von William Burroughs zusammengeschnipselte Texte scheinen diesen brüchigen Charakter zu bestätigen. Auch seine obsessive Beschäftigung mit dem Okkulten lässt Abgründe erahnen, bei denen offen bleiben muss, wie der Autor Peter-Robert König es formuliert hat, ob sie ihn inspiriert oder bedroht haben. Ob auch sie die weitere Pose eines leeren Ichs formen oder Ausdruck sind von nackter Angst und Verzweiflung. «I’m Tired of My Life», hat David Bowie bekannt, ich bin meines Lebens überdrüssig. Das war sein erster Song.
Solche Spekulationen sind typisch für einen, der alle Antworten zunichtemachte, in dem er jede Frage bestätigte. Er sammle Persönlichkeiten und Ideen, sagte er, es gebe ihn nur in den Augen seiner Betrachter. Was stimmt: In allem, was Bowie unternahm, in seiner Musik und seinen Interviews und Beteuerungen, wirkte er wie ein Gast, der zwar anwesend war, aber nie wirklich da. «David Bowie is a moving target», schrieb ein Journalist über ihn, ein bewegliches Ziel. Stetig erfand er sich neu, um jemand zu werden. «I Can’t Help Thinking About Me» benannte er eine frühe, erfolglose Single. «I don’t know who I am», erkannte er, fast vierzig Jahre später, auf seiner vorletzten Platte.
Möglicherweise waren auch solche Bekenntnisse als blosse Ablenkungsversuche eines Menschen ausgelegt, der im Grunde Realist war. Ein gerissener Geschäftsmann zum Beispiel, der sein Werk als einer der ersten an die Börse brachte. Bowies erste Frau Angie, der er viel zu verdanken hat, hält ihn für einen Egoisten, der alle fallen liess, die ihm nicht mehr nützten. Das mussten schon jene Musiker erkennen, mit deren Hilfe sich der Sänger Anfang der Siebziger hochgespielt hatte. An seinem letzten Konzert als Ziggy Stardust, das war am 3. Juli 1973 im Londoner Hammersmith Odeon, schockierte er sein Publikum mit der Ankündigung, es sei nicht nur das letzte Konzert dieser Tour, sondern sein letztes überhaupt. Seine Band wusste nichts davon. Loyalität ist David Bowies Sache nie gewesen.
Aber selbst das beschreibt ihn nur zum Teil. Möglicherweise muss man noch weiter über das hinausdenken, was der Künstler an Verhaltensweisen und Erklärungen dargeboten hat. Darauf deutet der Autor Paul Trynka in «Starman» hin, seiner exzellenten Biografie von 2012. Ihm zufolge erlebten Musiker, die mit Bowie im Studio arbeiteten, ihn nicht nur distanziert oder kühl, sondern auch humorvoll, unkompliziert, geradezu kumpelhaft: ein Londoner Cockney, normal wie englischer Regen.
Jetzt ist er verschwunden, hat sich aufgelöst wie ein Zauberer mit seinem letzten Trick. Zurück bleiben seine Stimme, seine Songs, die Aufzeichnungen seiner fantastischen Auftritte. Und die Erinnerung an einen charmanten, aber unnahbaren Charismatiker, der sich schon zu Lebzeiten als Mythos verewigte.
Vielleicht besteht das grösste Geheimnis um David Bowie darin, dass er keines war.